Aus einem alten Lexikon: die Boutonnière
Die glücklichen und selten gewordenen Besitzer eines mehrbändigen Lexikons kennen das Vergnügen in alten Bänden zu versinken und sich die Wissenswelt vergangener Zeiten anzueignen. So findet der geneigte Leser im dritten Band von Meyers Großem Konversations-Lexikon (Leipzig, 1905) auf den Seiten 73-74 eine kleine Geschichte der Kunstblume - und somit der Knopflochblume, der Boutonnière. Aber alles schön der Reihe nach.
Flughafen Schiphol: Heinz Rühmann mit reizendem Empfangskomitee und Boutonnière
Im Bild zeigt uns Heinz Rühmann, dass ein Leben mit Boutonnière sehr kurzweilig sein kann. Doch zurück ins Jahr 1905. Aus verschiedenen Stoffen lassen sich täuschend echte Nachahmungen natürlicher Blumen herstellen: "Man macht die Gewebe (Seide, Jakonett, Batist, Englischleder, Satin, Perkal, Taft) durch Satinieren glatt wie Wachs und gibt ihnen auch auf der Rückseite eine Appretur aus Gelatine und Stärkekleister.
Stiefmütterchen: handgefärbte Seidenblüte und passende Stanzform
Die mit Ausschlageisen (Blumen-, Blümcheneisen) hergestellten Ausschläge werden gefärbt, getrocknet und dann auf einem Kleiekissen oder einer Gummiplatte mit erwärmten Instrumenten gekröst, d.h. mit Krümmung, Äderung etc. versehen. Hierzu dienen Stempel, die den natürlichen Blättern galvanoplastisch treu nachgebildet sind.
Nahansicht: die handgearbeiteten Details unserer lachsfarbenen Mohnblume aus Seide
Staubfäden werden aus wiederholt in Leimlösung getauchten Seiden- und Baumwollfäden und aufgeklebten Grieskörnern hergestellt. Die Stengel bestehen aus umhülltem Draht." So oder so ähnlich machen es die fleißigen Blümlerinnen in der sächsischen Schweiz bis heute - und erschaffen so die schönen und einzigartigen Knopflochblumen (Boutonnières), die das Reversknopfloch von Herren mit besonderem Geschmack zieren. Viel zu schön, um ausschließlich vom Bräutigam zur Hochzeit als Reversblume getragen zu werden.
Von den Knopflochblumen aus Stroh, Papier & Co.
Ein Touch von Spiegelei und ausnahmsweise so gar nicht nach der Natur: unsere flache Narzisse aus Seide
Plastik und andere Kunststoffe lässt unser altes Lexikon gänzlich unerwähnt. Wohl, weil damals noch nicht erfunden - aber auch sonst zu vernachlässigen. Strohblumen, Getreideähren und Gräser werden der Natur entnommen und sind nur bedingt geeignet das Knopfloch als Herren-Accessoire zu verschönern.
London: Mr. James L. Richardson mit unserer roten Nelke im Knopfloch seines weißen Dinnerjackets
Häkelblumen sind möglich, aber verzichtbar. Weiterhin gibt es Knopflochblumen aus Holzspänen, Federn und Papier. Bitte lassen Sie das. Ebenso wie Wachsblumen oder Blumen aus Brotteig und Kautschukmasse. Ja, das alles gab es laut Lexikon im Jahre 1905 - doch das wollen wir auf keinen Fall im Knopfloch sehen. Zudem gab es italienische Blumen aus den Kokons der Seidenraupe. Das wollen wir uns lieber auch nicht genauer vorstellen. Ganz anders, aber sehr empfindlich, sind Knopflochblumen aus Porzellan oder Murano-Glas. Beides gibt es heute noch (oder wieder). Merke: Scherben bringen bekannterweise Glück.
Flughafen Schiphol: Terry-Thomas wie stets elegant und mit Boutonnière (Nelke)
Eine Boutonnière aus Seide ist deutlich "blumiger" und natürlicher. Auch eine gute Wahl für den Bräutigam zur Hochzeit - und allemal eleganter als überladene Hochzeitssträußchen am Revers. Hier im Bild zeigt uns der stets elegante Terry-Thomas wie selbstverständlich so eine seidene Boutonnière auch im Alltag und bei öffentlich Auftritten getragen werden kann. Unverwüstlicher Klassiker: die Nelke im Knopfloch.
Wer hat die Boutonnière erfunden?
Boutonnière-Herstellung: historische Stanzeisen für Seidenblumen im Archiv
Schwer zu beantworten. Laut Plinius, so unser olles Lexikon, wurde der Gebrauch von Kränzen aus künstlichen Blumen um 350 v. Chr. aus Ägypten nach Griechenland eingeführt. Elegante Römerinnen trugen parfümierte Blüten aus Papyrus und Seide (Aha!). In China benutzte man im 3. Jahrhundert Ansteckblumen aus Federn und gefärbter Seide.
Heute dienen bis zu hundert Jahre alte Rezepte zur Färbung der Seide unserer Knopflochblumen
Und im Mittelalter fertigten spanische und italienische Klöster Blumen für den Altarschmuck aus Batist, Kokons, Gaze und Seide. Später verlagerte sich die Herstellung in die Gegend um Lyon, und es ging zunehmend um Modeblumen für die Pariser feine Gesellschaft. Damen und Herren. Die Knopflöcher der Herren wurden bunter und gewagter. "1770 erfand ein Schweizer eine Maschine, mit der man 6–8 Blätter auf einmal schneiden konnte, und bald darauf wendete man die Matrizen an."
Seidenblumen aus Sachsen im Knopfloch des Herrn
Früher wie heute: hier geht alles mit Ruhe und Handarbeit
"Unter dem Kaiserreich und der Restauration machte die Fabrikation der künstlichen Blumen große Fortschritte, aber die jetzige [Wir befinden uns mit unserem Lexikon im Jahre 1905, der Blütezeit der Kunstblumenherstellung, Anmerkung des Autors] Vollendung und Ausdehnung erlangte die Blumenmacherei erst durch die Arbeitsteilung.
Fein gearbeitete Frühlingsboten: unsere seidenen Freesien für das elegante Revers
Mit Frankreich konkurriert fast nur noch Deutschland, wo die Blumenmacherei durch Magdalene Bienert in Nixdorf vor etwa 80 Jahren begründet wurde und an der böhmisch-sächsischen Grenze um Sebnitz, Neustadt, Rumburg, Schluckenau [Wo bitte ist denn das?] erblühte. Zollverhältnisse veranlaßten später die Übersiedelung der jungen Industrie nach Sebnitz, Hertigswalde, Burkersdorf, Neustadt etc.
Tradition: Wir lassen unsere seidenen Boutonnières an historischer Stätte in der Sächsischen Schweiz fertigen.
Hauptorte der Fabrikation in Deutschland sind jetzt [also 1905] Berlin, Leipzig, Dresden, München, wo den französischen vollkommen ebenbürtige Sachen geliefert werden. England liefert sehr viele, aber wenig geschmackvolle Kunstblumen." Dafür aber die schöneren Anzüge - findet der Blog-Autor von heute.
Joost Bom mit unserer Boutonnière Schokoladenblume im Knopfloch
Literatur:
- Die Herstellung künstlicher Blumen und Pflanzen aus Stoff und Papier (Wien, 1890, 2 Bde.)
- Ballerini, Die Anfertigung künstlicher Blumen (Weimar, 1898) Journal für Kunstblumen etc. (Wien, ab 1894)
- Blanchon, L'industrie des fleurs artificielles et des fleurs conservées (ab 1899)
- Bruno Schier, Die Kunstblume von der Antike bis zur Gegenwart (1957)
- Tione Mittl-Raht, Geschichte der Seidenblumen (1983)
- Umberto Angeloni, The Boutonniere - Style in One's lapel (2000)
- Fritz Kredel, Glass Flowers from the Ware Collection in the Botanical Museum of Harvard University: Insect Pollination Series (New York: Harcourt, Brace & Company, 1940)
- Laere, L. de, Traité complet sur l'art de faire les fleurs artificielles. (Paris, Goubaud et Bruxelles, Bruylant-Christophe, ca. 1890)
- Manfred Schober, Gerhard Döring, Die Sebnitzer Kunstblume: Die Geschichte eines Handwerks im Zeichen der Mode (Verlag der Kunst Dresden, 1994)
- Kaufmann, Marie, Neueste vervollständigte Anleitung zum Selbstunterricht im Anfertigen von Papierblumen. (M. Kaufmann Wien, I. Herrengasse 6. Selbst-Erzeugung und Niederlag aller Blumen-Bestandtheile, 1898)
- Anna Schlehuber, Künstliche Blumen-Schöpfung nach dem Reiche der Natur und Phantasie (Kaufbeuren, 1856) | Link zum e-Book
Autor: Andreas Thenhaus
Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 73-74
Fotos: Flory Gründig, Nationaal Archief, Eric Koch/Anefo, Sven Höhne, René Gaens, Jeordy Raines
Models: James L. Richardson, Joost Bom
Boutonnière - die Knopflochblume im Nahbereich